Bild der Schöpfung
Haben Sie schon einmal ein Bild gemalt von der Schöpfung,
von der Welt, die uns umgibt? Nein, nicht mit Stiften auf
Papier, sondern vor Ihrem inneren Auge. Wenn Sie mögen,
schließen Sie jetzt für einen Augenblick die Augen und malen
Sie Ihr Bild der erwachenden Natur im Frühjahr: malen Sie
die Sonne und die Wolken, die Blumen und die Bäume, die
Vögel und die Fische, Dich und mich.
Vielleicht ist das Bild vor Ihren Augen so geworden, wie wir das von unseren Kindern kennen: einfach, klar strukturiert, links oben die Sonne, daneben ein paar Wolken, unten nebeneinander eine Blume, ein Baum, eine Katze und ein Mensch. Die Blume hat die Größe des Menschen, manchmal überragt sie ihn sogar. Bei manchem fliegt noch ein Schmetterling oder ein Vogel quer durchs Bild.
Der Psalm 104 "Herr wie sind deine Werke so groß und viel! Du hast sie alle weise geordnet, und die Erde ist voll deiner Güter", und der Sonnengesang von Franz von Assisi laden dazu ein, ein strahlendes Bild von der Schöpfung zu malen, die uns umgibt. Und wohin wir zur Zeit schauen, entdecken wir den Wonnemonat Mai. Üppiges Wachstum, duftender Flieder, singende Vögel machen unsere Sinne froh und frei. Überall nur eitel Sonnenschein?
Jeder von uns weiß, dass dem nicht so ist. Es gibt Tage, da ist der Himmel wolkenverhangen, und kein Sonnenstrahl durchbricht das triste Grau über uns. So einfach und so sonnig wie das Bild, das ich gezeichnet habe, ist die Welt wohl doch nicht - und das Leben schon gleich gar nicht.
Als aufgeklärte Menschen des 21. Jahrhunderts haben wir viel von der Kompliziertheit der Zusammenhänge entschlüsselt - bis hin zu den Erbinformationen, zu den Genen von Pflanze, Tier und Mensch wissen wir mittlerweile bestens Bescheid.
Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht eine Pressemeldung Auskunft darüber gibt, was Forscher im Bereich der Biologie, der Gentechnik und der Medizin wieder Neues entwickelt haben. Gestern war die Rede vom "Gen-Gras": Der Pflanzengenetiker Russell McInnes vom Forschungszentrum für molekulare Pflanzenzucht in Perth hat Gras so manipuliert, dass die Halme viel langsamer wachsen. Zudem erwies dieses Gras sich als sehr widerstandsfähig, sodass die Pflege der Rasenflächen in Fußballstadien oder auf Golfplätzen mit dieser Sorte viel einfacher werden und häufiges Rasenmähen der Vergangenheit angehören könnte.
Das Gerät, mit dem diese Genmanipulation erfolgt, nennt sich denn auch Gen-Kanone. Als Kanonenfutter fungieren winzige Goldkügelchen, die mit der entsprechenden Erbsubstanz beschichtet und in die Halme geschossen werden.
Auf goldenen Boden hofft man mit einer anderen Entwicklung zu stoßen: Saatgut-Firmen züchteten vermehrungsunfähiges Saatgut. Das bedeutet, wenn die Bauern den ausgesäten Mais oder Weizen ernten, können sie von der Ernte kein eigenes Saatgut mehr gewinnen und müssen jedes Jahr neue Saat kaufen. Damit können sich Saatgutfirmen ihren jährlichen Absatz sichern und brauchen, vor allem in Entwicklungsländern, zukünftig nicht mehr zu fürchten, die Bauern könnten ihr eigenes Saatgut verwenden.
Und letzten Sonntag, passend zur Gottesdienstzeit, ging eine Meldung raus, die sagte, dass es einem amerikanischen Neurologen endlich gelungen ist, die Gegenwart Gottes im menschlichen Gehirn zu fotografieren. Mit einer speziellen Technik fotografierte er Veränderungen in der hinteren Hirnrinde bei Menschen, die in Gebet oder Meditation versunken waren. Diese Veränderungen sollen eine Auflösung des räumlichen und zeitlichen Empfindens und damit ein Gespür für die Unendlichkeit hervorrufen. Neuroimaging nennt sich die Forschungsrichtung, die in weiteren Untersuchungen Gott als biologisches Phänomen in der Hirnrinde eines jeden Menschen sichtbar machen will.
Gras, das kaum noch wächst, Saatgut, dass sich nicht mehr vermehren kann, Gott, der in der Hirnrinde der Menschen endlich als biologisches System sichtbar gemacht werden könne. Die Reihe der Beispiele könnte fortgesetzt werden um Embryonenforschung, Entwicklung von Stammzellen und vieles andere. Wissenschaft des 21. Jahrhunderts stellt die Schöpfung in ganz anderen Bildern dar, als "einfach nur Sonne und Wolken, eine Blume, ein Tier, ein Baum und ein Mensch".
Wie ist das denn dann mit den Bildern, die wir vor wenigen Minuten noch gezeichnet haben, die geprägt waren von "Herr, wie sind deine Werke so groß und viel! Du hast sie alle weise geordnet, und die Erde ist voll deiner Güter" und von "Laudato si o mi signore"? Sind dies Bilder einer Welt von gestern, die heute durch das Bild der Wissenschaft ersetzt werden? Hat Gentechnik und Medizin endlich geschafft zu beweisen, dass doch der Mensch die Krönung der Schöpfung ist?
Es kommt darauf an, wer den Stift in der Hand hat, wenn ein Bild gemalt wird.
Schauen wir uns den Wissenschaftler an: Wissenschaftler präsentieren uns die Bilder dessen, was sie erforscht haben, die Bilder ihres eigenen Tuns also. Großartig sind diese Bilder, gigantisch in ihren Auswirkungen. Sie greifen so stark in die Schöpfung und in unser Leben ein, dass manchem die bange Frage kommt: Wo soll das denn noch alles hinführen? Zu welchen Taten werden wir Menschen zukünftig fähig sein?
Schauen wir uns den Beter des 104. Psalms an: Er malt kein Bild seines eigenen Tuns, sondern lässt sich einfach darauf ein, was er außerhalb seiner eigenen Hirnrinde wahrnimmt. Er lässt sich darauf ein, den Schöpfer zu loben (und nicht seine eigene Herrlichkeit): "Lobe den Herrn, meine Seele! Herr mein Gott, du bist sehr herrlich; du bist schön und prächtig geschmückt. Licht ist dein Kleid, das du anhast. Du breitest den Himmel aus wie einen Teppich, du baust deine Gemächer über den Wassern."
Am vergangenen Freitag hielt Bundespräsident Johannes Rau die traditionelle Berliner Rede zum Thema "Wird alles gut? - Für einen Fortschritt nach menschlichem Maß". Er würdigt die großen Erfolge der Wissenschaft, die zweifelsohne mit zu all dem beigetragen haben, was unser Leben heute erleichtert und verlängert. Doch er stellt auch die Frage: "Was ist gut für den Menschen?" Die Antwort auf diese Frage, so Johannes Rau, "können wir nur finden, wenn wir ethische Grundsätze für unser persönliches Leben und für das Zusammenleben von Menschen formulieren, achten und selber leben."
Ethische Grundsätze legen Grenzen fest, innerhalb derer wir uns bewegen. Wir kennen sie als die zehn Gebote, als die Menschenrechte - oder auch als die Umweltschutzauflagen zur Bewahrung der Schöpfung.
Für die Wissenschaft fordert Johannes Rau, diese uralten Grundsätze und Wertvorstellungen nicht zu privatisieren, sondern einfließen zu lassen in Wissenschaft und Forschung , damit wir nicht zu "Gefangenen einer Fortschrittsvorstellung (werden), die den perfekten Menschen als Maßstab hat".
Wahrscheinlich sind wir alle der Ansicht, diese Forderungen sind überaus notwendig. Endlich hat sie jemand öffentlich gestellt.
Doch sollten wir auch noch einmal auf unsere eigenen Bilder blicken.
Ethische Grundsätze rücken auch unsere Bilder in einen gemeinsamen Rahmen, mehr noch, sie geben den Bildern eine Beziehung zueinander. Wir kennen die Gaben, die Beziehungen tragfähig machen: Liebe, Vergebung, Freundlichkeit, Güte, Sanftmut, Frieden und Freude.
Jetzt schauen wir uns doch noch einmal unser einfaches Bild von der Schöpfung an: eine Wolke, eine Sonne, unten eine Blume, ein Baum, eine Katze und ein Mensch. Die Blume möglicherweise größer als der Mensch.
Dieses einfache Bild rührt uns an, weil darin die Freude eines Kindes oder unsere eigene Freude beim Malen zum Ausdruck kommt. Es rührt uns an, weil die Liebe zur Natur widergespiegelt wird. Da, wo wir diese Werte, wo wir Liebe, Vergebung, Freundlichkeit, Güte, Sanftmut, Frieden und Freude im alltäglichen Tun und Schaffen zulassen, stellen wir uns mit unserem eigenen Bild in den weiten Rahmen der guten göttlichen Kräfte, die das Leben tragen - und die auch heute noch Hoffnung für die Schöpfung von morgen geben.
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