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Jetzt oder nie (Kurzgeschichte)

Brigitte Neumann


Erwin, hast du auch die Badehose eingepackt?" 
"Na klar, Erna, wie immer, die blaue. Und das Sonnenöl und das Badehandtuch und die Strandsandalen ebenfalls", ruft Erwin Krüger seiner Frau aus dem Schlafzimmer zu. Er schließt den neuen schwarzen Koffer und stellt ihn vom Bettrand auf den weißen Teppich.

"Erwin, du musst dich beeilen. Gleich kommt das Taxi", tönt Frau Krügers Stimme drängelnd aus der Küche. 
Er antwortet nicht und seufzt auf, als er sich im Spiegel anschaut. "Erwin, wer bist du eigentlich?", murmelt er, betrachtet die Spuren, die fast sieben Lebensjahrzehnte in seinem Gesicht hinterlassen haben, streicht sich über das glatt rasierte, faltige Kinn und begutachtet seinen lichter werdenden Haarschopf. Die graumelierten Locken sind immer noch nicht zu bändigen. "Wenn ich das mal wüsste", antwortet sein Spiegelbild und runzelt die Stirn. 
Frau Krüger tritt ins Schlafzimmer. 
Sie hält ihm eine Stofftasche hin: "Für unterwegs." 
"Danke." Erwin wendet sich vom Spiegel ab und greift den Beutel. Er weiß schon, was drin ist: eine Doppelschnitte Pumpernickel mit Käse, ein gebuttertes Schinkenbrot, ein Apfel, eine Capri-Sonne Orange und zwei Erfrischungstücher für unterwegs. Alles wie immer, zum zwanzigsten Mal in diesem Jahr. Unter dem Weihnachtsbaum lag wieder das Ticket für die zehntägige Flugreise nach Mallorca. Jedes Jahr trifft er sich mit zwei alten Studienfreunden dort. Sie tauchen tagsüber ein ins Meer und abends ab an der Bar des Hotels. 
Doch dieses Jahr würde nichts wie immer werden. "Erwin, was ist los mit dir?" hatte er sich neulich auf seinem täglichen Nachmittagsspaziergang gefragt. Ihm fehlte die vertraute Vorfreude auf die Reise. "Mensch, denk doch mal nach", tickte es in ihm. "Alles läuft wie immer. Jede Minute scheint vorprogrammiert. Und selbst auf Mallorca weißt du schon, was, wann und wie geschehen wird. Ist das das Leben? Tick-tick, tick-tick, tick-tick…?" Er erschrak und blickte sich um. Regentrister grauer Himmel, saubere Gehsteige, gepflegte Vorgärten, keine Bewegung spürbar, noch nicht einmal der Wind wirbelte durch die Bäume und Büsche. Alles schien still zu stehen, nur die Lebensuhr in ihm tickte laut.

Sein Blick blieb an der alten gelben Telefonzelle hängen. Sie fügte sich seit Jahren ein in das Straßenbild an der Ecke. Aber an dem Tag fiel sie ihm auf, weil ausnahmsweise mal jemand telefonierte, laut und heftig gestikulierend. Dass das Telefon überhaupt noch funktionierte! Wortfetzen drangen nach außen. "Das Wetter ist grandios… Natürlich gibt’s hier Palmen, jede Menge sogar"… 
Palmen? Schönes Wetter? Hier? Da dämmerte es Erwin Krüger. Der unbekannte Anrufer verschaffte sich gerade ein Alibi! Er hörte nicht länger zu. Das war’s: Ausbrechen, einfach mal ausbrechen aus dem Trott, sich auf etwas anderes einlassen, irgendwohin reisen, etwas tun, was niemand von ihm, dem ordentlichen, gepflegten, zuverlässigen, inzwischen pensionierten Beamten erwartete. Er fühlte sich plötzlich wie einst Erwin auf der Schulbank. "Streber" nannten sie ihn, den Einserschüler. Oft hasste er sein tugendhaftes Benehmen – und fand doch nicht den Mut, dagegen anzugehen. Bis zu diesem Moment war er kein einziges Mal aus der Rolle des braven Schülers geschlüpft. 
"Erwin, jetzt oder nie", mahnte er sich. 
Am nächsten Tag sagte er seinen Freunden unter einem Vorwand ab. Das ging leichter, als er gedacht hatte. Sorgfältig bereitete er sich nun auf eine Reise allein nach Berlin vor, der Stadt seiner Kindheit, die ihn abstieß und anzog, fremd geworden und dennoch eigenartig vertraut geblieben war. Seine Frau weihte er mit keinem Wort in seine Pläne ein, denn er wollte endlich einmal alles anders machen, als er meinte, dass es von ihm erwartet würde. 
Die Telefonzelle wurde seine heimliche Verbündete. Von dort aus mietete er ein Zimmer in einem kleinen Hotel am Prenzlauer Berg, rief einen alten Freund an, freute sich über dessen Einladung, verabredete sich mit ihm und bestellte Karten für einen Kabarettabend in der Distel. Das war genug an festgelegtem Programm. Die übrige Zeit würde er sich einfach nur treiben lassen – und auf Entdeckungsreise gehen. 
Jetzt ist Erwin Krüger unterwegs zum Bahnhof. In der Hand spürt er das Gewicht des neuen Koffers, gepackt für Mallorca, und im ganzen Körper das mulmige, aber spannende Gefühl eines braven Pennälers, der ausbricht. Am Fahrkartenschalter zögert er einen Moment. "Erwin, bloß nicht kneifen", ermutigt er sich und verlangt mit fester Stimme ein Ticket nach Berlin. Als er in den ICE steigt, hofft er inständig, dass dort auch noch Telefonzellen stehen. Die braucht er, um von Palmen und Strand und herrlichem Badewetter berichten zu können.

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