Schichtwechsel (Kurzgeschichte)
Als sie sich die Hände wusch, zeigte die große Uhr über der schweren weißen Tür neben dem Waschbecken auf halb Fünf. Das erste Licht der Morgendämmerung fiel durch das halb offene Fenster auf der anderen Seite des Raumes. Es nahm dem grellen Licht der Neonröhren in den vergitterten Kästen unter der hohen Decke den harten hellen Strahl. Nichts schmückte diesen Raum, der bis hoch unter die Decke mit hellen Fliesen gekachelt war.
Jeder Winkel blitzte hygienisch sauber und steril, kein Gegenstand ohne festen Platz und klare Funktion.
Heute Nacht hatte Rebekka wieder einmal mit der kalten Funktionalität und Perfektion dieses Saales gerungen. Noch immer fürchtete sie sich vor Nächten wie dieser. Alle vier Betten waren belegt gewesen. Jede Gebärende hatte Probleme mit diesem uralten Kreißsaal, der außer dem Sichtschutz der spanischen Wände zwischen den Betten keine Intimsphäre bot. Doch sie war bekannt für ihre Professionalität. Die zeigte sich in solchen Nächten auch darin, dass sie jeder einzelnen die volle Aufmerksamkeit widmete und sie motivierte, sich nur auf sich selbst zu konzentrieren.
Eine wartete noch. Sie war gestern Abend schon da und hatte die ganze Nacht offensichtlich ausgeharrt - bis die anderen fertig waren. Ungezählt viele Wehen waren gekommen und gegangen. Aber ihr Muttermund wollte und wollte sich nicht öffnen.
Die Hebamme trocknete sorgfältig ihre Hände. Das kalte Wasser, das ihr eben noch über die Unterarme lief, hatte die Müdigkeit vertrieben. Rebekka blickte prüfend in den Spiegel und strich vergeblich eine widerspenstige Haarsträhne aus der Stirn. In anderthalb Stunden würde eine Kollegin kommen und sie ablösen. Sie ging auf die Gebärende zu, die vor dem Bett auf einem dicken grünen Ball saß, sich mit den Händen den Rücken stützte, leicht mit dem Becken kreiste und aus dem Fenster schaute.
Die junge Frau drehte sich um. "Jetzt ist sie bereit", schoss es Rebekka durch den Kopf. Sie beobachtete, wie sie die Hände vom Rücken nahm und auf den dicken, runden Bauch legte, als wolle sie dem kleinen ungeborenen Wesen diese Botschaft übermitteln. Eine neue Wehe erschütterte die Frau. Sie atmete tief in den Bauch, so wie sie es gelernt hatte und versuchte, durch die Wehe hindurch die Hebamme anzulächeln. Es wurde nur ein verkrampfter Versuch. Jetzt bröckelte ihre perfekte Selbstbeherrschung, mit der sie sich die ganze Nacht über fest im Griff gehabt hatte.
"Locker lassen", sagte die Hebamme mit sanfter Stimme, "locker lassen. Nicht lächeln. Entspannen. Alle Gesichtsmuskeln entspannen. Den Unterkiefer fallen lassen. Gucken wie ein dummes Schaf." Die Frau musste lachen. Die Wehe war wieder abgeklungen. Aber die nächste folgte schon - mit derselben Heftigkeit. Rebekka trat hinter die Frau und legte ihre Hände in deren Kreuz. Sie setzte den Druck und die Wärme gegen die Schmerzen. Zwischen den Beinen der Gebärenden ergoss sich ein warmer Schwall. Die Fruchtblase war geplatzt. Die Wehen wurden noch wilder und kamen in immer kürzeren Abständen. Die Hebamme half ihr auf das Bett, steckte ein dickes Kissen in ihren Rücken und zog eine Haltestange her, in die sie sich reinhängen konnte.
Sie wusste, dass die Gebärende vor Schmerz wie benebelt war und klare Anweisungen brauchte. Deshalb wich aus Rebekkas Stimme alle Sanftheit. Entschlossen und kraftvoll erteilte sie die Befehle. "Hecheln!" "Kurz atmen!" "Nicht pressen, noch nicht pressen!" "Normal atmen!" Mit immer stärkerer Wucht kamen die Wehen angerauscht. Die Frau wollte schreien, doch presste sie stattdessen den Mund fest zusammen. "Schrei, schrei so laut du willst", rief die Hebamme ihr zu. Kaum hatte sie das gesagt, sprang ein lang gezogenes, laut gellendes "Jaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa." aus dem Mund der Gebärenden. Diese Wehe schien unendlich zu sein und drohte sie schier zu zerreißen. Keine Luft mehr, kein Atem, nur noch Wehenschmerzen, stechende, ziehende, berstende Schmerzen überall. Endlich flaute sie ab. Auch Rebekka atmete tief auf. "Prima! Gut ausgehalten! Jetzt ist das Köpfchen weit genug unten. Ich kann die Haare schon sehen. Bei der nächsten Wehe kräftig mitpressen", gab sie neue Anweisungen. Und nun ging alles ganz schnell. Es folgten noch zwei austreibende Presswehen, dann ertönte bald der erste Schrei. Wenig später sprang der Zeiger der Uhr auf die sechste Stunde. Die Hebamme gab das käseschmierige Neugeborene der Mutter an die Brust, sah zu, wie es nach kurzem Suchen glucksend die körperwarme Milch aus den prallen Brüsten sog - und verabschiedete sich. Geschafft!
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